Sicherheitspolitisch wird Europa zurzeit gehörig durchgeschüttelt. Die europäische Sicherheitsarchitektur mit der von den USA dominant getragenen Nato droht einzustürzen. Weltweit ist eine Rückkehr der Machtpolitik zu verzeichnen. Angeführt wird diese Tendenz von China, Russland und den USA. Die regelbasierte Ordnung der Sicherheitspolitik zerbricht und in der Wirtschaft werden Zollschranken hochgezogen. Das Völkerrecht verliert seinen Stellenwert.
Diese Entwicklungen sind für den Kleinstaat Schweiz, der auf Frieden und Freihandel angewiesen ist, äusserst bedrohlich. Der Krieg ist in Europa zurück! Seit Februar 2022 sprechen wir von einer Zeitenwende. Doch die Öffentlichkeit hat die russische Aggression gegen Georgien 2008 und die Krim 2014 zu wenig ernst genommen.
«Je mehr wir in unsere Sicherheit investieren, desto eher schrecken wir jene ab, die uns Schaden zufügen wollen», sagte Polens EU-Minister Adam Szlapka (NZZ vom 28. Mai 2025). Diese Erkenntnis ist nicht neu. Unser Präsident hat in seinem Editorial vom Januar 2025 an die Weisheit der Antike erinnert: «Si vis pacem, para bellum» - «Wer den Frieden will, muss den Krieg vorbereiten». Das heisst, wir müssen Vorsorgemassnahmen treffen, um verteidigungsfähig zu sein. Das bewährte Schweizer Konzept heisst «Dissuasion ». Es bedeutet Abhaltung durch konventionelle Mittel.
Wo stehen wir heute und welche Massnahmen sind zu treffen? Da ist zunächst der Wille, uns zu verteidigen. Er ist die Grundlage für die Verteidigungsfähigkeit. Ohne diesen Willen geht es nicht. Dazu müssen wir leider sagen, dass in unserem Land das Bewusstsein für die aktuelle Bedrohung und Sicherheit in vielen Kreisen abhandengekommen ist. In anderen Ländern sieht dies anders aus: die Polen sind motiviert. Sie kennen ihren Nachbarn. Sie haben aus der Geschichte gelernt. Polen investiert fast 5% des Bruttoinlandprodukts (BIP) in die Verteidigung. Wir Schweizer hingegen diskutieren darüber, ob 1% des BIP für die Verteidigung und für die Sicherheit ab 2032 ausreichen…
Die Lücken in unserer Verteidigung sind eklatant und die Zeit drängt. Experten gehen davon aus, dass Russland binnen fünf Jahren seine Kriegswirtschaft so aufgestellt hat, um einen weiteren Angriff Richtung Westen, z.B. im Baltikum, wagen zu können. Das Ziel ist, zumindest Teile des alten Sowjetimperiums wieder herzustellen. Doch beleuchten wir zunächst die relevanten Entwicklungen: Abläufe, Verfahren, Technologien und Mittel im Krieg haben sich deutlich verändert.
Hybrider Krieg
Machtpolitische Ziele werden zunächst mit hybriden Mitteln verfolgt. So hat es der russische Generalstabschef vorgezeichnet. Gemäss der Gerasimov-Doktrin wird der Krieg mit hybriden Mitteln eröffnet. Cyberangriffe auf Kritische Infrastrukturen, Desinformation und Propaganda, Einschüchterung und Korruption, Sabotage, gezielte Tötungen, Einsatz von Flüchtlingen und vieles mehr werden zur Destabilisierung eines Landes eingesetzt. Der hybride Krieg hat schon längst begonnen und selbst die neutrale Schweiz ist immer wieder betroffen. Wenn diese erpresserischen Massnahmen nicht genügen, die Ziele zu erreichen, können Luftangriffe aus der Distanz mit Drohnen, Raketen, Fliegerbomben etc. den Widerstand brechen. Als ultima ratio wird der Angreifer zuletzt auch am Boden angreifen. Die Konsequenzen aus diesem beobachtbaren Vorgehen rufen danach, die Prioritäten neu zu setzen:
- Zunächst müssen Staaten, deren Sicherheitsorgane und Kritische Infrastrukturen sowie letztlich auch Unternehmen gegen Cyberangriffe mit allen Mitteln abwehrbereit gemacht werden.
- Mit grosser Priorität muss die Luftverteidigung ausgebaut werden.
- Auch die Armee am Boden muss an die neuen Bedrohungen angepasst werden.
- Die neuen Technologien Drohnen, Robotik, Künstliche Intelligenz sind zusammen mit der Digitalisierung adaptiv einzusetzen und als Vorteil zu nutzen.
- Eine Konzeption der «Umfassenden Sicherheit» (früher Gesamtverteidigung) ist von Nöten, welche auch die wirtschaftliche und Informationsresilienz adressiert, die Rüstungsbetriebe im Inland stärkt und das ganze Land mit seinen Kritischen Infrastrukturen gegen eine Aggression widerstandsfähiger macht. Unser Schweizer Sicherheitsverbund ist auf den Verteidigungsfall vorzubereiten.
Besonders anspruchsvoll ist die Luftverteidigung. Israel als kriegserprobtes Land hat eine Vielfalt von Systemen im Einsatz. Eine ausgebaute Luftwaffe, drei verschiedene Boden-Luft-Systeme, welche Distanzen von unterschiedlichen Vertikalen von über 2’000 km bis 10 km abdecken. Zusätzlich gibt es verschiedene Systeme zur Drohnenabwehr. Aber den Grossangriff des Iran konnte Israel nur dank der Unterstützung des US-Kommandos im Nahen Osten mit Waffenunterstützung von mehreren weiteren Staaten abwehren.
Auch die Schweiz braucht dringend Boden-Luft-Abwehr- Systeme. Mit der Lieferung von 5 Feuereinheiten des Systems Patriot (50 km horizontal, 20 km vertikal) kann die Schweiz bloss 1/3 unseres Landes schützen. Die Bestellung wurde von den USA wegen anderer Prioritäten zurückgestellt. Es braucht ein weiteres Bodluv-System mittlerer Reichweite. Hier ist das europäische Boden-Luft-System IRIS-T vorgesehen, welches das Rückgrat des European Skyshields bilden wird. Ohne Kooperation wird es nicht gelingen, unser Land wirksam gegen Bedrohungen aus der Luft (ballistische Raketen, Mittelstrecken-Raketen, Gleitbomben etc.) zu schützen.
Eine Kooperation mit den Nachbarländern bei einem Angriff auf uns und unsere Nachbarländer ist durchaus mit der Neutralität vereinbar. Weiter braucht es ein moderneres Luftabwehrsystem für kurze Distanzen. Das System muss auch gegen Drohnen wirksam sein. Hier könnte die Kanonenflugabwehr Skyranger von Oerlikon zum Einsatz kommen. Doch die ganzen Beschaffungen dauern viel zu lange. Die Beschaffungsprozesse sind massiv zu verkürzen.
Weiterentwicklung Heer
Am Boden hat die neue Kriegsführung enorme Folgen. Aufgrund des massiven Drohnen-Einsatzes kann in Frontnähe kaum noch schweres Gerät bewegt werden. Jede Bewegung wird schnell erkannt und kann mit Drohnen kostengünstig bekämpft werden. Drei Drohnen mit einen Kosteneinsatz von weniger als 2’000 US-Dollar können einen Millionen Dollar teuren Panzer zerstören. Sogar einzelne Soldaten können mit Drohnen bekämpft werden. Die Folgerung: Kleine mobile Einheiten mit geschützten Stellungen sind angesagt, die mit Drohnen für Aufklärung und Angriff ausgerüstet sind. Bunker und Festungen, die wir nach dem Mauerfall geschleift haben, werden wieder bedeutend.
Und weil der Krieg voraussichtlich in Phasen erfolgt (zunächst hybrid, dann Schläge aus der Distanz) und erst am Schluss ein terrestrischer Angriff, müssen wir verhindern, dass auf unserem dichtbesiedelten Staatsgebiet mit zahlreichen wertvollen und verletzlichen Kritischen Infrastrukturen überhaupt terrestrisch Krieg geführt wird. Wie können wir das verhindern? Durch Dissuasion! So sind Abstandswaffen gefragt, damit wir den Angreifer bereits 500 km vor unserer Grenze bekämpfen können. Weitreichende Raketen-Artillerie und Drohnen sind das Mittel dazu, als Ergänzung zum F-35.
Ich frage mich, unter welchen Voraussetzungen die zwei geplanten schweren Divisionen, angesichts der Erkenntnisse auf dem Gefechtsfeld in der Ukraine, in den Einsatz gebracht werden könnten. Die Armee muss geschützt sein: In Bunkern, Festungen und Unterständen einen Erstschlag zunächst überleben und danach mobil und schnell bewegbar sein. Drohnen bilden fortan ein wichtiges Einsatzmittel. Weitreichende Artillerie aus geschützten Stellungen muss feindliche Stellungen und Infrastrukturen weitab der Landesgrenze angreifen können. Der Schutz Kritischer Infrastrukturen ist gegen Cyber-Angriffe und Angriffe aus der Luft und am Boden sicherzustellen (Territorialarmee). Resilienz und Durchhaltevermögen sind höchst bedeutsam. Zur Kriegsführung braucht es grosse Reserven an Munition und weiterer Güter. Die Logistik ist wieder zu dezentralisieren und zu schützen. Dazu braucht es auch eine minimale Rüstungsindustrie im Lande für die Schlüsselgüter wie Munition mit adäquaten Rahmenbedingungen. Weil diese Anpassungen Zeit und Geld brauchen, müssen entsprechende Prioritäten gesetzt werden.
Angesichts der demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen ist die Sicherheitsdienstpflicht zukunftsfähig neu zu bestimmen, damit unser Land sowohl für die Armee als auch den Bevölkerungsschutz genügend Milizleistende zur Verfügung hat und die Wehrgerechtigkeit gewährleistet ist.
Fazit
Die Prioritäten für die Armee sind neu und richtig zu setzen.
- 1Cyberschutz, Cyberverteidigung und Resilienz gegen hybride Kriegführung.
- Luftverteidigung braucht mehrere Systeme für kurze, mittlere und lange Distanzen, neu gegen Drohnen und eine defensive Kooperation.
- Die Armee ist auf die Kriegsführung am Boden auszurichten. Abstandswaffen sollen die Verteidigung auch ins gegnerische Gebiet ermöglichen.
- Schutz von Truppen, Waffensystemen, Logistik und Kritischen Infrastrukturen.
- Die Armeelogistik ist wieder auf die Verteidigung auszurichten mit genügenden Munitionsvorräten, Bevorratung und Dezentralisierung.
- Die Schweizer Rüstungsindustrie braucht angemessene Rahmenbedingungen auch für den Export.
- Die Miliz muss ein stärkeres Gewicht in Armee und Gesellschaft gewinnen. Die Wehrpflicht muss verbindlich sein. Reservisten ergänzen die Armee für die Durchhaltefähigkeit und den Schutz Kritischer Infrastrukturen.
- Es braucht eine Konzeption für die integrierte Verteidigung.
Ein grosser Teil der konzeptionellen Arbeiten ist im Sicherheitspolitischen Bericht 2025 zu leisten. Dieser soll Ende 2025 vorliegen und zuvor in die Vernehmlassung gehen. Der Bundesrat hat dazu die Eckwerte gesetzt: «Verwundbarkeiten reduzieren, die Sicherheit und Abwehrfähigkeiten der Schweiz stärken sowie die Souveränität bewahren und den Handlungsspielraum erhöhen. Für diese Ziele wird die Sicherheitspolitische Strategie Wege und Mittel der Umsetzung vertiefen, dies vor allem mit Blick auf die Bedrohung durch hybride Konfliktführung und unter besonderer Berücksichtigung der Kooperation». Wir warten auf den Bericht mit grossem Interesse, werden uns dazu äussern in der Vernehmlassung und sind gespannt auf die folgenden politischen Diskussionen.
Erstpublikation: Pro Militia, Ausgabe September 2025
Referat Paul Winiker «Welche Verteidigungsstrategie braucht die Schweiz?» herunterladen (PDF, 4 A4-Seiten):
Pro Militia_Winiker_Leitartikel-Verteidigungsstrategie_September-2025.pdf
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